Die Weltstadt der Stühle liegt mitten im türkischen Niemandsland. Cunda Adasi, Teil von Ayvalik, beherbergt nicht nur Unmengen felliger, sondern vor allem hölzerner und metallischer Vierbeiner. Überall stehen Stühle herum. Sie stapeln sich in Hinterhöfen, sie sind ordentlich vor Tischen aufgebaut, sie stehen am Straßenrand.
Vor lauter Stühlen ist der Rest des schönen Örtchens kaum zu erkennen; sie scheinen sich auf jedes Foto zu schmuggeln und in knalligen Farben manchmal auch nur aus rein dekorativen Zwecken irgendwo abgestellt worden zu sein, damit die Touristen, von denen es kaum welche gibt um diese Jahreszeit, etwas schön Buntes auf dem Foto haben, das einen Kontrast zu den unzähligen verfallenen Häusern bildet, die dem Örtchen eine ganz besondere Atmosphäre verleihen und nicht nur Lost-Places-Fans eine ganze Speicherkarte vollfotografieren lassen. Um Stühle und verlassene Häuser kurven Traktoren herum; angesichts groben Kopfsteinpflasters und steiler Gassen das beliebteste Fortbewegungsmittel der Region.
Und wenn sie schon da sind, diese Stühle, dann sollte man sie auch benutzen. Man sitzt also gerne herum in Cunda, raucht viel, verputzt Meze – türkische Vorspeisen – und bespricht den neuesten Dorfklatsch. Den Platz zwischen den Stühlen teilt man sich mit Katzen, unzähligen Katzen, und gelegentlich tapst ein Hund vorbei. Cunda erinnert an Süditalien. Man hat Zeit, und wenn man keine hat, nimmt man sich eben welche.
Einer, der immer zu tun hat, ist Ferid. Er stampft in einem Café an der Promenade von Cunda Mokkabohnen; zehn Stunden am Tag lässt er einen 25 Kilo schweren Stößel auf die Bohnen krachen, und zwar mit großer Hingabe. Das begeistert nicht nur die, die draußen sitzen und frisch gemahlenen Mokka trinken, sondern vor allem die, die sich ins Innere des Tas Kahve verirren und dabei die menschliche Sehenswürdigkeit entdecken. Denn der Kaffeezermahler hat nicht nur eine seiner Tätigkeit angemessene Oberarmmuskulatur, die er – huch – auch noch scheinbar zufällig im Muskelshirt präsentiert, sondern auch noch ein Gesicht, das sich für große Schwarz-Weiß-Fotokunst eignet.
Ferid stampft also in diesem Café, während sich draußen an der Promenade dutzende Katzen vor einem angelandeten Fischerboot aufreihen und aufs Mittagessen warten. Man will sich auf einen der Stühle setzen und einfach nur zugucken. Cunda ist unwirklich und ein bisschen märchenhaft; es könnte eine Kulisse sein. Eine, für die die Requisite aus Versehen zu viele Stühle bestellt und diese dann wild in den Straßen verteilt hat, bevor der Regisseur das verschwendete Budget bemerkt.
Das Städtchen Ayvalik, das man eigentlich mit Ohnepunkt-I schreibt, was auf der Macbooktastatur aber nicht zu finden ist, ist Teil einer vergessenen Region an der Ägäisküste. In den 1970er Jahren blühte das Örtchen auf; wurde von Touristen belagert und von Türken als Sommerort entdeckt. Bis Side, Bodrum und Co. Ayvalik in den 1990er Jahren den Rang abliefen und das Städtchen in einen Dornröschenschlaf versank. Touristen blieben weg, Häuser verfielen; die Schönheit der Region mit ihren 2,5 Millionen Olivenbäumen, zwei Stunden von Izmir entfernt und zumindest gefühlt in ebenso weiter Distanz zu der zur Reisezeit aktuellen Diskussion ums Böhmermann-Gedicht, blieb den Einheimischen vorenthalten.
Eines der wenigen großen Hotels stellt sich nun dagegen: Das Murat Reis, ein Fünf-Sterne-Haus, hat im vergangenen Jahr wiedereröffnet – seit Anfang der 1990er Jahre hatte es leergestanden. „Es war eine Ruine“, erinnert sich Direktor Muzaffer Bulgurcuoğlu (55) an das Gebäude, als er im November 2014 die Direktion und damit den Wiederaufbau des Hauses übernahm.
Er hat nicht nur die frühere Ruine auf Vordermann gebracht und zu einem durchdesignten Hotel mit internationalem Standard, mit eigenem Strand, Spa und 90 Zimmern und Bungalows aufgebaut, sondern auch eine neue Kultur etabliert: Tierliebe wird im Murat Reis groß geschrieben; drei Hunde leben auf dem Hotelgelände, die Katzen „Ticker, Zorro und Sushi“, die beim Frühstück gerne um die Gästebeine schleichen, ebenfalls. Alle sterilisiert, geimpft, entwurmt – echte Haustiere eben. Eine Besonderheit in diesem Land.
Rund um Ayvalik gibt’s übrigens nicht nur den angeblichen Fußabdruck des Teufels (große Füße!) zu sehen, sondern auch viele alte Steine: Die Stadt Pergamon ist per Gondelbahn zu erreichen und lässt in die Vergangenheit blicken, als man in der Region noch auf Felsen hockte und nicht auf Stühlen.
Guckst Du: Mehr Fotos gibt’s hier.
Die Reise wurde unterstützt von Murat Reis und Turkish Airlines.