Er kommt unverdächtig, der Regen, schleicht sich einfach in den Tag. Ein paar Tropfen sind es, während ich in einem Warung, einem kleinen Lokal am Straßenrand, sitze und für zwei Euro Mie Goreng (gebratene Nudeln mit Gemüse) und frisch gemixten Fruchtsaft zu mir nehme. Es ist freier Tag Nummer zwei, und den verbringe ich wie Tag Nummer eins: auf dem Motorroller. Der Freiheit wegen. Dabei singe ich die ganze Zeit „Creep“ von Radiohead, und das sollte mir für den nächsten freien Tag zu denken geben, denn beim letzten Mal sang ich „Umbrella“ von Rihanna („Uhhhh, Baby, it’s raining, raining“), was sich als Omen für den freien Tag Nummer zwei erweisen wird. Einen Umbrella habe ich nämlich nicht dabei, und einen Regenmantel nur für das Macbook, und zwar in Form meiner wasserdichten Bootstasche.
Nach dem sehr späten Mittagessen, vor dem ich schon locker 70 Kilometer Rollerfahrt hinter mir habe, breche ich auf, bei eben diesen paar Regentropfen. Es kommt, wie es kommen muss: Mitten auf der Strecke fängt es an zu schütten.
So sehr, dass ich links ranfahre und mich samt Roller unter ein Vordach stelle, unter dem schon diverse Balinesen ebenfalls samt Rollern anzutreffen sind. Da sitze ich dann auf einer Holzbank und warte. Zehn Minuten, 20 Minuten. Dabei beobachte ich diejenigen, die nicht angehalten haben und an mir vorbeifahren. Lastwagen, auf deren Ladeflächen Hindus im Tempelgewand stehen, die offenbar von einer Zeremonie kommen, und lachen. Das muss man sich bitte in Deutschland mal vor Augen halten: Extra schick gemacht für die Kirche, im Sonntagsstaat unterwegs, die komplette Nachbarschaft ist dabei, und dann kommt der Wolkenbruch. Der Durchschnittsdeutsche würde vermutlich eines nicht tun: lachen.
Das ist hier anders, das gefällt mir, und ich muss unwillkürlich ebenfalls lachen, während ich die Vorbeifahrenden angucke. Am liebsten würde ich winken, aber die fahren zu schnell als dass sie das sehen würden durch den Regenschleier.
Nationenübergreifend scheint übrigens der Reflex zu sein, sich unter Regen wegducken zu wollen. Es tropft von oben? Dann Kopf einziehen und klein machen! Liebe Leute, das funktioniert nicht, das weiß ich ganz sicher seit der Grundschule, als Schulrektor Herr Ehlen, wie alle Lehrer grundsätzlich vornamenlos, mich mit den Worten „Du bist so klein, Du kannst doch unter dem Regen durchlaufen“ bei Schlechtwetter aus der Halle auf den Schulhof hinaustrieb. Auch ich wurde nass, trotz geschätzter 1,10 Meter Höhe.
Auf den Motorrollern, die vorbeisausen, drücken die hinten Sitzenden ihre Stirn in den Nacken des Vordermanns; ich sehe Menschen, die unter den Regenmantel des Fahrers gekrochen sind und deren Umrisse wie Höcker wirken. Müssen die ein Vertrauen haben, sich komplett blind unter einer Plastikplane versteckt durch die Gegend kutschieren zu lassen. Wobei es das Vertrauen vielleicht eher fördert, wenn man nicht sieht, wie der Fahrer so fährt.
Der Himmel wird immer dunkler, die Wolken klammern sich an die Berge, Wind ist nicht vorhanden. Irgendwann lässt der Regen nach, es tröpfelt nur noch, wie es getröpfelt hat, als ich im Warung saß; und ich, bis dahin fast komplett trocken geblieben, steige wieder auf den Roller und will die letzten sechs Kilometer hinter mich bringen. Erkältet bin ich ohnehin schon, da ist das bisschen Nässe samt Fahrtwind doch egal.
Bei Kilometer zwei sitze ist breit grinsend auf dem Roller. Aus ein paar Tropfen ist ein amtliches Unwetter geworden, und ich kann nicht anders, als das Ganze zu genießen. Anhalten und irgendwo unterstellen? Forget it. Das will ich gar nicht. Das hier ist Regen, echter Regen. Mehr Rock’n’Roll ist gerade nicht drin. Die Straße ist größtenteils derart überflutet, dass ich die Beine links und rechts des Rollers hochstrecke; wie wir das damals als Kinder gemacht haben, wenn wir mit den Fahrrädern durch Pfützen gerollt sind und das ganz großartig fanden. Genauso finde ich das auch gerade. Ich hebe also die Füße hoch, damit der Straßenschlamm nicht alles dreckig macht. Leider bin ich die einzige, die die Füße hochnimmt. Die Lkw-Fahrer, die mir entgegenkommen, nehmen nämlich nichts hoch, also vom Gas. Als mich die erste Ladung Schlammwasser von der Gegenfahrbahn erwischt, mache ich reflexartig die Augen zu, das ist jedoch gar nicht nötig, denn ich klappte kurz vorher das Visier des Halbhelms herunter, weil mir der Regen trotz Sonnenbrille über die getuschten Wimpern in die Augen tropfte. Die nächsten Straßenduschen erlebe ich grinsend (geschlossener Mund, so tief reicht das Visier nicht). Von genießen zu sprechen, wäre angesichts der braunen Brühe, die schwallweise über mich schwappt, übertrieben. Aber die Situation hat was. Ich bin eingesaut wie nach einem Schlammcatch-Wettbewerb.
Wenn kein Laster kommt, dann schlagen mich die Regentropfen. Man glaubt gar nicht, was für eine Kraft so kleine Tropfen bei Fahrt haben können, die Formulierung des peitschenden Regens ist schon richtig, wenngleich leider durch klischeehaft geschriebene Krimis recht ausgelutscht. Regentropfen peitschen allerdings sehr punktuell, es sind eher Stiche, da, wo kein Stoff die Haut bedeckt. Im Dekolleté und auf den Armen sticht es besonders; es ist ein tolles Gefühl, weil es so surreal ist und zugleich so erdet. Ich bin patschnass, die Hose, und mir fällt just in diesem Moment auf, dass ich exakt Dasselbe trage wie beim letzten freien Tag, klebt an den Oberschenkeln fest, das T-Shirt, das bei Tag eins luftig um mich herumflatterte, pappt am Oberkörper. Ich grinse immer noch und summe „I’m a creep, I’m a weirdo.“
Klatschnass zu werden, ist bei mir verknüpft mit glücklicher und behüteter Kindheit. Das klingt paradox, aber es erinnert mich immer an einen ganz bestimmten Sonntag. Wir waren, wie so oft, spazieren. An der Ruhr in Kettwig, relativ weit, die Familie spaziert gerne und ausgiebigst. Am Kattenturm dann, schon auf dem Rückweg, bricht plötzlich dieser Regen los. Es sind sicher noch zwei oder drei Kilometer bis zum Auto, entlang der Ruhr, ohne Möglichkeit des Unterstellens. Ich bin maximal im Grundschulalter, eher jünger. Und maximal klatschnass. Es ist Abenteuer, es ist toll, es gewittert, was das Ganze noch besonderer und aufregender macht, und ich weiß, dass nichts passieren wird, weil ja die Familie dabei ist, weil ich ohnehin nicht ängstlich bin und weil ich per Sozialisation gelernt habe, das Gewitter als spektakulär statt spooky anzusehen sind. Okay, „spooky“ kannte ich damals noch nicht, aber es muss der Alliteration wegen sein. Bei Gewitter standen wir immer zusammen im Dunkeln am Wohnzimmerfenster und beobachteten die Blitze und zählten die Sekunden bis zum Donner.
Irgendwann erreichen wir das Auto, die Schwester und ich werden in Decken gewickelt, die im Auto liegen, und der Regen prasselt auf das Dach. Bis auf die Decke, die kratzt und nach Auto riecht, und zwar nach dem Auto, in dem es mir grundsätzlich schlecht wird, und damit das ansonsten ausschließlich positive Erlebnis haptisch und olfaktorisch ein wenig stört, erlebt Klein-Corinna patschnass Geborgenheit und das Abenteuer namens Unwetter.
Genau das erlebe ich auf Bali wieder. Unwetter machen mich froh. Ich kann da nicht anders, kindliche Prägung halt, Pawlow und so. Die einzige Sorge, die ich habe, ist, dass meine wasserfeste Tasche vielleicht doch nicht wirklich wasserfest sein könnte. Das habe ich noch nie getestet, und aktuell befindet sich meine komplette Elektronik-Ausstattung samt Ladegeräten und Kopfhörern darin. Wäre schon doof, wenn das Zeug gesammelt untergeht.
Lustig wird meine Tour auf den letzten 500 Metern, die von der geteerten Straße über eine abschüssige Holperstrecke führen, die trocken schon schwierig zu befahren ist, weil sie mehr Geröllfeld ist als Weg. Nass aber, und zwar richtig nass, ist sie ein brauner Fluss mit Stromschnellen dort, wo sonst die dicksten Steine liegen.
Das vermute ich zumindest, zu sehen ist ja nix durch die Schlammsuppe. Ich nehme das interessiert zur Kenntnis, die Füße aber nicht mehr hoch, weil ich die als Seitenstabilisatoren brauche. Das Moped schwimmt, die braune Brühe ist so tief, dass, wenn ich die Füße auf den Boden stelle, meine Knöchel nicht mehr zu sehen sind.
Ein paar Mal schlingere ich sehr wackelig rum, hinfallen wäre irgendwie blöd, denke ich, weil ich gar nicht weiß, wie sich so ein Mopedmotor benimmt wenn er geflutet wird.
Angekommen, schiebe ich den Roller unter ein Vordach und mache die Tasche auf: wasserdicht, Sorgen unbegründet. Ich brauche mehr balinesische Gelassenheit in meinem Leben, das erspart so manchen wirren Gedanken. Aber beim Macbook hört die balinesische Gelassenheit auf. Und bei der Kamera. Und beim iPod. Und überhaupt bei Vielem. Später sehe ich übrigens, dass das einzig Trockene an mir – außer der Haare, die unter dem Helm waren – ein schmaler Streifen am T-Shirt ist. Am Rücken, genau dort, wo der Helm, der mir deutlich zu groß ist und bei Gegenwind so wackelt, dass ich denke, er reißt mich nach hinten vom Moped, offenbar übersteht wie ein Heckspoiler.
Ich mag diesen freien Tag, den ich mir mit „Umbrella“ selbst herbeigesungen habe. Fürs nächste Mal gilt entsprechend „Creep“: „What the hell am I doing here? I don’t belong here!“ Bin gespannt.